Sanierung statt Neubau – wie Deutschland seine Wohnungsnot wirklich rasch lindern kann

08.08.2025

Eine Reportage aus Nürnberg und München, August 2025

Ein drängendes Problem – und ein offener Widerspruch

Am 8. August 2025 beziffert das Bundesbauministerium den bundesweiten Fehlbedarf auf rund 550 000 Wohnungen – und das ist die konservative Variante. Gleichzeitig stehen laut jüngstem Zensus mehr als 1,7 Millionen Wohnungen leer, viele davon seit Jahren. Wie passt das zusammen? Und warum konzentriert sich die wohnungspolitische Debatte immer noch fast ausschließlich auf Neubaupläne, statt den Bestand konsequent zu aktivieren? Eine Spurensuche in zwei sehr unterschiedlichen bayerischen Großstädten zeigt, warum Sanierung die schnellere, günstigere und klimafreundlichere Antwort sein könnte – wenn Politik und Branche sie endlich als erste Option begreifen.


Neubau in der Sackgasse

Noch 2021 versprach der Bund jährlich 400 000 neue Wohnungen. 2024 wurden knapp 235 000 fertiggestellt, 2025 dürften es nach Branchenschätzungen weniger als 230 000 sein. Drei Gründe stechen hervor:

  1. Zinswende – der durchschnittliche Hypothekenzins hat sich binnen drei Jahren mehr als verdoppelt, viele Projekte sind nicht mehr finanzierbar.

  2. Material- und Lohnkosten – der Baupreisindex liegt rund 38 Prozent höher als vor der Pandemie.

  3. Bürokratie – in Großstädten vergehen vom ersten Entwurf bis zur Baugenehmigung inzwischen acht bis vierzehn Monate.

Hinzu kommt das schlichte Flächenproblem: In boomenden Regionen ist Bauland rar und teuer. Das alles macht den klassischen Neubau zur langsamsten aller Antworten.


Der blinde Fleck: Millionen Quadratmeter ungenutzter Wohnraum

Während Bagger stillstehen, warten Altbauten, unausgebaute Dachgeschosse, ehemalige Büros oder ganze, aber veraltete Mehrfamilienhäuser darauf, wiederbelebt zu werden. Fachleute der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) schätzen, dass allein durch Sanierung und Umnutzung innerhalb von drei Jahren bis zu 300 000 bezahlbare Wohnungen aktiviert werden könnten – ohne einen einzigen neuen Quadratmeter Boden zu versiegeln.


Nürnberg: Die unterschätzte Reserve

Wer einen Eindruck von diesen Reserven bekommen will, muss nur die Treppen eines Nachkriegsblocks am Nürnberger Südring hinaufsteigen. Drei Stockwerke sind bewohnt, zwei stehen leer. „Das Dach ist dicht, die Leitungen sind alt, mehr nicht“, sagt Hausverwalterin Sabine Meier. Für eine modernisierte 65-Quadratmeter-Wohnung könnte sie derzeit rund 10 Euro nettokalt pro Quadratmeter verlangen – noch immer deutlich unter dem Münchner Niveau, aber fünfzig Prozent mehr als vor fünf Jahren.

Die Stadt Nürnberg verzeichnet derzeit eine durchschnittliche Nettokaltmiete von 9,80 Euro pro Quadratmeter; gleichzeitig liegt die offizielle Leerstandsquote bei rund sieben Prozent. Das sind etwa 19 000 Wohnungen – eine Größenordnung, die das gesamte, jährlich neu entstandene Angebot der letzten fünf Jahre in der Frankenmetropole übertrifft.

Für Innenrenovierungen braucht es in Bayern oft keine Vollbaugenehmigung: Artikel 57 der Bayerischen Bauordnung stuft Ausbauten ohne Eingriff in tragende Bauteile als genehmigungsfrei ein. „Zwischen Bauantrag und Schlüsselübergabe liegen bei uns im Idealfall sechs Monate“, sagt Meier. Ein kompletter Neubau schlage mit drei Jahren zu Buche – „wenn alles glattläuft“.


Ein Quartier wacht auf

Die Wirkung lässt sich in St. Leonhard ablesen, einem ehemaligen Arbeiterviertel westlich des Hauptbahnhofs. Dort investierte ein Konsortium aus drei Handwerksbetrieben und einer Genossenschaft in 72 leerstehende Wohnungen von 1958. Neue Dämmung, Leitungsersatz, Grundrissoptimierung – nach acht Monaten waren die ersten Familien eingezogen. 60 Prozent der Kosten deckten KfW-Kredite und steuerliche Sanierungsabschreibungen, ein kommunaler Fonds steuerte 300 Euro pro Quadratmeter Zuschuss bei.

Stadtbaurätin Christine Degenhart zieht eine schnelle Bilanz: „Wir haben innerhalb eines Jahres Wohnraum für rund 150 Menschen geschaffen, praktisch ohne zusätzliche Planungsressourcen.“ Die Nachfrage zeige, dass „es nicht immer der hochpreisige Neubau sein muss, um ein Quartier aufzuwerten.“


München: Die Hauptstadt des Mangels

Knapp 150 Kilometer weiter südlich ist der Wohnungsmarkt ein Pulverfass. Die aktive Leerstandsquote liegt bei 0,2 Prozent, die niedrigste unter Deutschlands großen Städten. Doch auch hier schlummern Reserven: Laut Zensus gibt es 22 400 offiziell gemeldete Leerwohnungen, weitere 9 000 Einheiten gelten als „Schattenleerstand“ – Mietwohnungen, die als Zweit- oder Ferienapartments deklariert sind.

Die Stadt reagiert inzwischen mit Druck: Eine verschärfte Zweckentfremdungs-Satzung sieht Bußgelder von bis zu 500 000 Euro und regelmäßige Kontrollen vor. Allein 2024 wurden dadurch gut 1 100 Wohnungen wieder dem regulären Markt zugeführt. Doch die eigentliche Chance liegt in der Umnutzung leerer Büroflächen: Seit der Pandemie stehen im Stadtgebiet rund 1,3 Millionen Quadratmeter Bürofläche leer. Würde nur ein Drittel davon in Mikro-Apartments umgewandelt, entstünden rechnerisch 7 000 neue Wohneinheiten – ohne ein einziges Fundament auszuheben.



Neubaupreise, die davonlaufen

Die Preisrelationen machen den Umnutzungskurs plausibel. Eine neu gebaute Eigentumswohnung kostete 2024 im Schnitt über 12 600 Euro pro Quadratmeter. Sanierte Altbauwohnungen wurden für knapp 9 000 Euro angeboten; einfache Bestandswohnungen, die ohne Luxusstandard modernisiert wurden, wechselten schon für 6 500 Euro den Besitzer. Beim Mietwohnungsbau liegt der Kostenvorteil ähnlich: Kernsanierungen bewegen sich nach Angaben des Münchner Planungsreferats zwischen 900 und 1 400 Euro pro Quadratmeter, während Neubauvorhaben selten unter 2 500 Euro bleiben.


Woher der Geschwindigkeitsvorteil kommt

Warum also steht die Sanierung nicht längst ganz oben auf der Agenda? Ein Grund ist das föderale Dickicht der Bauordnungen. Doch ausgerechnet Bayern liefert seit Jahren ein Praxisbeispiel, wie es schneller gehen kann. Für Innenumbauten ohne Veränderung der Statik ist in vielen Fällen lediglich eine Bauanzeige nötig; der Umbau darf beginnen, wenn die Verwaltung nicht binnen eines Monats widerspricht. Im Vergleich zum regulären Genehmigungsverfahren – mit umfassendem Brandschutz-, Schall- und Wärmeschutznachweis – spart das Monate.

Hinzu kommt der Faktor Handwerk. Statt auf wenige Großprojekte verteilt sich der Sanierungsboom auf viele kleine Vorhaben – ein Segen für Mittelständler. Schreiner Michael Hofbauer modernisiert im Münchner Osten Dachgeschosse im Akkord: „Unsere Vorfertigung erlaubt es, das komplette Dach in drei Tagen einzudecken und gleichzeitig Gauben einzubauen.“ Hofbauers Team schafft so aus 100 unbeheizten Quadratmetern binnen vier Wochen zwei vollwertige Zwei-Zimmer-Wohnungen – ohne die Mieter darunter auszuquartieren.


Klima- und Kostenvorteil auf einen Blick

Baustoffe wie Stahl, Beton und Ziegel sind energie- und CO₂-intensiv. In einem typischen Mehrfamilienhaus stecken rund 250 Kilogramm CO₂-Äquivalent pro Quadratmeter graue Emission. Wer die tragende Struktur erhält und lediglich Fassade, Leitungen und Technik ersetzt, spart bis zu zwei Drittel dieser sogenannten Vorketten-Emissionen. Hochgerechnet auf 1 000 Wohnungen entspricht das einer CO₂-Ersparnis von etwa 15 000 Tonnen – so viel wie 10 000 PKW in einem Jahr ausstoßen.

Auch der Geldbeutel profitiert: Laut dem Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) liegen die Baukosten bei soliden Bestandsmodernisierungen 25 bis 30 Prozent unter vergleichbaren Neubauprojekten. Kombiniert man KfW-Programm 261 (Fördersätze bis zu 22,5 Prozent Tilgungszuschuss) mit der steuerlichen Sanierungsförderung nach § 35c EStG, reduzieren sich die effektiven Investitionskosten oft noch einmal um ein Fünftel.



Was noch im Weg steht – und wie man ihn freiräumt

Die größten Engpässe sind derzeit Planungskapazitäten und der Fachkräftemangel im Ausbauhandwerk. Während Großbaustellen wegen der Baukrise Personal abbauen, fehlen in manchen Regionen Trockenbauer und Elektriker für Kleinprojekte. Branchenvertreter fordern deshalb:

  • Serielle Sanierung – vorgefertigte Fassaden- und Dachelemente, die wie ein Baukasten eingesetzt werden können.

  • Digitale Bauakte – einheitliche Genehmigungs- und Förderplattformen, um Anträge in Wochen statt Monaten abzuarbeiten.

  • Schnellabschreibung für Modernisierungskosten (acht Prozent pro Jahr über zehn Jahre), um privates Kapital zu mobilisieren.

Kommunen wie Nürnberg testen bereits Quartiersmanager, die Eigentümer beraten, Fördermittel bündeln und Handwerker koordinieren. In München entsteht ein „One-Stop-Shop“ für Büro-Umnutzungen: Architekt, Brandschutzgutachter, Statiker und Verwaltung sitzen dort an einem Tisch – das Pilotprojekt im Stadtteil Neuperlach hat 640 Wohnungen in elf Monaten aus leerstehenden Bürohäusern geschaffen.


Stimmen aus Wirtschaft und Wissenschaft

„Der schnellste Hebel gegen Wohnungsknappheit ist der Bestand“, sagt Prof. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Jeder Euro für Sanierung erreiche „binnen eines Jahres“ den Markt; beim Neubau dauere es im Schnitt das Dreifache. Ähnlich sieht das IW Köln, das in einer aktuellen Studie zu dem Ergebnis kommt, dass 300 000 Wohnungen schon bis 2027 aktiviert werden könnten – vorausgesetzt, Länder und Kommunen räumen bürokratische Hindernisse aus dem Weg.

Der Münchner Mieterverein begrüßt die Entwicklung, warnt aber vor „Luxussanierungen, die am Ende nur die Miete hochtreiben“. Vorstand Volker Rastätter fordert deshalb feste Mietobergrenzen bei öffentlich geförderten Modernisierungen – ein Ansatz, den Nürnberg bereits in seinem Fördertopf „Saniert statt neu gebaut“ verankert hat.


Ausblick – warum die Zeit drängt

Bis 2030 soll Deutschland seine Gebäudeeffizienzklasse im Schnitt um zwei Stufen verbessern, um die Klimaziele zu halten. Gleichzeitig wachsen Ballungsräume weiter: Für die Metropolregion München errechnet das Statistische Landesamt einen Zuwachs von rund 330 000 Menschen bis 2035. Dem kann der Neubau allein nicht folgen – schon gar nicht, wenn jede Baugenehmigung mehr als ein Jahr braucht.

Sanierte Bestandsgebäude dagegen stehen oft schon nach sechs bis neun Monaten wieder am Markt. Sie sparen Flächen, CO₂ und Baukosten und bewahren gewachsene Quartiere vor Abriss-Walze und Gentrifizierung. Nürnberg zeigt, dass selbst scheinbar „abgehängte“ Viertel binnen kurzer Zeit wieder lebendig werden können. München beweist, dass sich mit klugen Regeln sogar in einem überhitzten Markt leerstehende Reserven mobilisieren lassen.


Fazit

Die Wohnungskrise bleibt eine der größten sozialen Herausforderungen der kommenden Jahre. Doch wer sie allein mit dem Bagger lösen will, kämpft mit stumpfem Werkzeug. Sanierung, Aktivierung von Leerstand und Umnutzung bestehender Gebäude sind kein Plan B, sondern der schnellste, wirtschaftlichste und ökologisch sinnvollste Weg, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.

Wenn Bund, Länder und Kommunen Förderprogramme, Bauordnungen und Beratungsangebote jetzt entschlossen auf diese Priorität ausrichten, kann ein Großteil des Defizits schon vor 2030 geschlossen werden – und zwar ohne einen Quadratmeter zusätzlich zu versiegeln. Deutschland hat das Potenzial, seine Wohnungsnot nicht nur zu verwalten, sondern zu überwinden. Es liegt bereits vor unserer Haustür – man muss es nur sanieren.

© 2025 BG Assets.
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